Klingeltöne im Märchenland

von Reinhard Schmidt, Waldecksche Landeszeitung, 8. Mai 2013

Ensemble der Goethe-Schule Düsseldorf wandert in “Ingrimm” durch zwei Welten

Korbach. Ein Rotkäppchen, das seine Großmutter hasst und den Wolf eigenhändig er­sticht, ein Sterntaler, der mit dem Reichtum geizig wird, oder ein Schneewittchen, das wegen seiner Schönheit arrogant und großkotzig daherkommt. Die Märchenweit geriet in dem Stück „Ingrimm” mäch­tig durcheinander. Die Grimmschen Geschichten wur­den in der ideenreichen Eigen­produktion vom Ensemble der Goethe‑Schule in Düsseldorf immer wieder verwoben mit der realen Welt, dabei wurde dem Zuschauer in fast jeder Szene der Spiegel vorgehalten. Spieg­lein, Spieglein, nein, es ging nicht um Schönheit, sondern um innere Werte, um das kleine Schwarze in der Seele, die eige­ne dunkle Seite. Gier, Geiz oder Geltungssucht haben auch im Gutmenschen noch genügend Platz. Jeder fahndet sein Leben lang nach Glück, Freiheit, Lie­be, Reichtum oder dem ultimativen Kick. Der gerade Weg dort­hin und die schiefe Bahn liegen nah beieinander.

Ein von den Eltern verstoße­nes Geschwisterpaar wandert in diesem Stück durch einen geheimnisvollen Wald und trifft dort Märchenfiguren und ande­re Gut‑und‑Böse‑Gestalten.

Die jugendlichen Hänsel und Gretel kennen das täglich Brot nur aus dem Vaterunser, aber die reale Welt da draußen weiß die Scheibe Brot nicht mehr wertzuschätzen, sie benötigt bereits Ernährungsberatung. Immer wieder produziert das Stück unterhaltsame Szenen, die Gegensätze wie arm ‑ reich, schwach ‑ stark, mutig ‑ ängst­lich, übersättigt ‑ hungrig, lie­ben ‑ hassen oder bescheiden ‑ gierig thematisieren, aber nie plump oder mit erhobenem Zeigefinger daherkommen.

Gut agierende Schauspieler stehen vor einer Großleinwand, auf der einfache und gleichzei­tig sehr ausdrucksstarke Bilder erscheinen, die dieser Auffüh­rung einen zusätzlichen opti­schen Glanz verleihen.

Die Darsteller sprechen da­bei eine Sprache, die erst durch ihre Derbheit genau auf den Punkt kommt. Es ist Zeit, Tache­les zu reden. Das alles ergibt ein spielerisches Gemisch, das für kurzweilige Unterhaltung sorgt. Trotz aller Dramen im Wald wird das Lachen nicht ausspart. Frohsinn entfacht oft ein Mann, der in akuter Zeitnot durch die Märchenwelt hetzt und Worte wie diese von sich gibt: „Ich ha­be heute noch wichtige Termine, dabei muss ich mich zunächst als Frosch gegen die Wand wer­fen lassen und danach bei den Zwergen dieser Frau die ver­giftete Apfelschnitze aus dem Mund nehmen.“

Aber da ist noch viel, viel mehr vergiftet. Die reale Welt scheint durch steigenden Egoismus, Werteverlust und die unsterb­liche Krake „Turbokapitalis­mus“ verloren zu sein. Selbst die Märchenwelt ist nicht mehr heil. Rotkäppchen besitzt auch schon ein Handy.

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